Ein kleiner Berlinale Rückblick

Alle Jahre wieder, war Anfang Februar diesen Jahres Zeit für die Berlinale, die 65. inzwischen. Gut 400 Filme wurden innerhalb von zehn Tagen gezeigt, so hört man. Ich habe nichtmal zehn Filme geschafft, für einen kleinen Rückblick soll es trotzdem reichen.

Knapp 400 Filme also. Zerteilt und untergliedert in Retrospektive, Panorama, Wettbewerb, selbstverständlich, Berlinale goes Kiez, Forum, Forum, Forum Expanded, Perspektive Deutsches Kino, Generation und so weiter und so fort. Den Überblick zwischen den verschiedenen Unter-, Zwischen- und Neben-Kategorien hat bestenfalls noch der Mensch, welcher das Programmheft schreibt. Am Ende gibt es irgendwelche Bären-Preise für ein paar Filme, welche man in der Regel eh nicht gesehen hat, schon allein weil es teilweise unmöglich war, überhaupt noch Karten zu bekommen, wenn man sich nicht früh um sechs anstellen wollte. Selbst Ivanhoe von 1952 in der Retrospektive Glorious Technicolor an einem sonnigen Samstag um 11 Uhr morgens war restlos ausverkauft.
Nachdem ich mich in den letzten Jahren ein paar mal diesem Karten-Kampf gestellt hatte, muss ich gestehen, dass ich mich dieses Jahr völlig ohne Vorbereitung, ohne Plan und Konzept auf die Berlinale begeben habe und eigentlich nicht mal Lust hatte, übermäßig Filme zu sehen. Ich gestehe also, ich habe mich schmarotzermäßig an zwei emsige Berlinale-Gängerinnen gehängt, die mir jeweils die zweite zu bekommende Karte abgetreten haben. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass die großen Mainstream-Filme wie Queen of the Desert (der neue Film von Werner Herzog mit Nicole Kidman in der Hauptrolle) oder einer der gefühlten dutzend Festival-Beiträge, an denen James Franco irgendwie beteiligt war, geschweige denn der PR-Coup des Jahres, nämlich die Premiere von 50 Shades of was auch immer nicht Teil meines Berlinale Programms waren und es ist bestimmt auch nicht schade drum. Im folgenden also ein kleiner Überblick der von mir gesehenen Filme, in der Reihenfolge der Sichtung. Das ein oder andere Schmuckstück war definitiv darunter.

The Diary of a Teenage Girl (Generation 14+)

San Francisco, 1976. Die 15jährige Minnie hat ihr erstes Mal gerade mit dem Freund ihrer Mutter erlebt und spricht ihr Denken, Fühlen und Handeln schonungslos offen auf ihr Tonbandgerät. Und für das, was sie nicht ausspricht, findet der Film ziemlich offenherzige Bilder. 
Die Verfilmung basiert auf der gleichnamigen Graphic Novel von Phoebe Gloeckner, die wiederum wohl autobiografische Züge aufweist. Das historische Setting des 1970er Jahre San Franciscos zu belassen, wie es die Vorlage vorgibt, stellt sich als die richtige Entscheidung der Regisseurin Marielle Heller heraus, die mit The Diary of a Teenage Girl ihr Film-Debut gibt. So entsteht eine gewisse verklärende Distanz, die den Figuren – vor allem Minnies Mutter (ganz zauberhaft, wenn auch ziemlich verantwortungslos: Kristen Wiig), ihrem Freund Monroe (ebenso verantwortungslos aber dafür ausgesprochen ansehnlich: Alexander Skarsgård) und vor allem Minnie (ziemlich fantastisch und eine absolute Entdeckung: Bel Powley) extrem zu Gute kommt. Untersetz wird dieser Selbst-Findungs-Trip Minnies mit handgezeichneten Animationen, Zeichnungen und Kritzeleien, die dem Film eine nette zusätzliche Ebene geben.
Der Film nimmt sich viel vor, setzt es unterhaltsam um und scheitert am Ende vielleicht ein wenig daran, dass er sich seinen Vorsatz, die Sexualität von pubertierenden Mädchen zu zeigen, zu sehr zu Herzen nimmt und darüber letztendlich eine tiefergehendere Charakterisierung seiner Figuren vergisst und sie zu sehr auf ihre sexuelle Komponente reduziert. Trotz aller starken Frauen-Figuren: Den Bechdel-Test besteht der Film leider nicht, ansehen kann man ihn sich als unterhaltsame Coming-of-Age-Geschichte aber trotzdem.

Angelica (Panorama)

Nach der Geburt ihrer Tochter wird der glücklich verheirateten Constance im viktorianischen England der 1880er Jahre aus gesundheitlichen Gründen absolute Enthaltsamkeit nahegelegt. „Madam, sie müssen ihren Garten verschließen!“ wird sie von dem bornierten Arzt angeherrscht. Was folgt war für mich persönlich die größte Enttäuschung der Berlinale. Constance (gespielt von Jena Malone, auf die ich normalerweise in Independent-Film-Fragen große Stücke setzte) verliert sich mehr und mehr in Wahnvorstellungen, ist nahezu besessen vom Wohlergehen ihres Kindes und hat mysteriöse übersinnliche Erscheinungen. Das Drehbuch weist mehr als nur große Lücken auf, die Darstellung der sich steigernden Hysterie funktioniert nicht anhand der Figuren, sondern, wenn überhaupt, nur über schlechte CGI-Effekte, die eher zum Fremdschämen einladen, als etwas Gothic-Stimmung zu verbreiten. Die Chronologie der Ereignisse ist im Schnitt eindeutig verändert und so entsteht eine merkwürdige Geschichte mit unausgegorenen Charakteren, die mich als Zuschauer irgendwie frustriert zurück gelassen hat. Wer einen Film über die unterdrückte Sexualität von Frauen in viktorianischer Zeit sehen möchte, solle sich dringend Jane Campions The Piano von 1993 noch einmal ansehen. Ein Rat, den man auch dem Regisseur gern gegeben hätte.

Queen of Earth (Forum)

Queen of Earth stellte sich für mich als ziemliche Überraschung heraus und war tatsächlich genau so ein Film wie ich ihn mir von einem Festival erhoffe. Ein kleiner, feiner Low-Budget-Film. Fantastische Schauspieler, eine innovative Erzählweise, ja, ein bisschen anstrengend, aber trotzdem einprägsam. Zwei Freundinnen verbringen eine Woche in einem Haus am See, eine der beiden wurde gerade schmerzhaft verlassen, zu dem ist ihr übergroßer Künstler-Vater gestorben. Langsam aber sicher driftet sie in Depressionen ab. In parallel montierten Bildern springt der Film ein Jahr in die Vergangenheit. Damals ging es der anderen nicht gut, sie hatte sich Hilfe von ihrer Freundin erwartet, doch jene verbrachte den Urlaub lieber mit ihrem Freund. Wie instabil Freundschaft ist, wie diffizil das Geflecht von Erwartungen und Enttäuschung, wie schnell Gleichgewicht gestört wird, sobald eine weitere Person hinzu kommt, wird von dem gerade einmal 30jährigen Regisseur Alex Ross Perry eindrucksvoll inszeniert, vor allem seine zwei Hauptdarstellerinnen Elisabeth Moss und Katherine Waterson laufen zu Höchstform auf.

Eisenstein in Guanajuato (Wettbewerb)

Im Jahr 1931 reist der damals schon weltbekannte sowjetische Regisseur Sergei Eisenstein nach Guanajuato in Mexico, um einen Film zu drehen. Er wurde nie fertig. Die  hunderte Kilometer belichteten Materials verschwanden in den Kellern seiner amerikanischen Finanziers; Eisenstein selbst musste in die Sowjetunion zurück, um bei Stalin nicht noch weiter in Ungnade zu fallen. Doch jene Dreharbeiten, jener Anlass für die Reise spielen in Peter Greenaway Film tatsächlich kaum eine Rolle. Vielmehr geht es darum, wie der exzentrische Künstler Eisenstein fernab von Regime und Heimat zu sich selbst findet. Vor allem in sexueller Hinsicht, denn die aufgeladenen Spannung zu seinem mexikanischen Führer steht von Anfang an im Raum (und ist wohl auch historisch verbucht). Doch den Film auf jenes sexuelle Erwachen Eisensteins zu reduzieren wird ihm in kleinster Weise gerecht. Der Film ist laut, dynamisch und schnell. Ein cinephiler Film, nicht nur für Liebhaber der russischen Avantgarde. Greenaway spielt mit Split-Screens und Farbwechseln, (mal zeigt die Leinwand dreimal das selbe, mal dreimal etwas völlig anderes), immer wieder unterlegt mit Eisensteins Panzerkreuzer und keine der Figuren scheint jemals still zu stehen. Alles ist ständig in Bewegung und neben der unbeschreiblichen Kamera vor allem der Eisenstein-Darsteller Elmer Bäck, der dem tatsächlichen Eisenstein nahezu unheimlich ähnlich sieht und ihn furios zum Leben erweckt.

Yi bu zhi yao (Wettbewerb)

Yi bu zhi yao war der diesjährige chinesische Beitrag und vielleicht der, an den ich mit den wenigsten Erwartungen herangegangen bin, was vor allem meiner großen Unkenntnis, das chinesische Kino betreffend, geschuldet ist. Ich wurde durchaus positiv überrascht. Der Film ist bunt, laut, schrill. Historienfilm, Musical und Revue; Referenz an europäische und amerikanische Filmklassiker (der englische Titel allein lautet Gone with the Bulletts), aber vor allem ist er Huldigung an den ersten abendfüllenden chinesischen Spielfilm aus dem Jahr 1921, welcher wiederum vor Jahrzehnten verloren gegangen ist und somit als filmischer Mythos über allem schwebt. Es geht irgendwie um eine Verschwörung, um Geldwäsche, um einen Schönheitswettbewerb für Prostituierte. Der überraschende Sieg einer Außenseiterin löst eine Kette von verhängnisvollen Ereignissen aus und Shanghai in den 1920ern ist ein Tanz auf dem Vulkan. Zwischendurch ist es manchmal nicht ganz leicht den Überblick zu behalten, aber der Genre-Mix bringt definitiv Spass.

Knight of Cups (Wettbewerb)

In einer Kritik war zu lesen, der neue Film von Terrence Malick würde einen Zuschauer entweder kriegen, oder eben nicht. Mich hat er nicht gekriegt und ich war ehrlich gesagt ein bisschen enttäuscht darüber. Dass Malicks Filme intensiver Auseinandersetzung bedürfen, weiß man spätestens seit Tree of Life und umso größer waren wohl auch die Erwartungen an Knight of Cups. Was bleibt ist eine Reihe zauberhafter Bilder, wunderschöne Frauen und Malicks offensichtliche Vorliebe für nackte Füße. Vor allem für die von Natalie Portman. Und auch, wenn ich mir damit sicher viel Kritik einfange: mir hat das nicht gereicht, um den Film über zwei Stunden zu tragen. Denn für mich stellte sich doch vor allem die Frage, was für ein Problem die erfolgreiche und doch so erfolgreich leidende Figur Rick (Christian Bale) denn nun eigentlich hat. Dass die zauberhafte Cate Blanchett seine Exfrau ist? Dass es zu viele wunderschöne Frauen gibt, mit denen er Affären hat und wir, mit ihm, den Überblick zwischen all den Models und gebrochenen Herzen verlieren? Dass sein ganzes Leben, dass Hollywood, alles nur hohl und Kulisse ist? Nunja. Die angestrebte Weiterentwicklung des Films hin von Narration zur übergeordneten Bildlichkeit bleibt spätestens jedenfalls irgendwo hinter dem Vater-Sohn-Konflikt auf der Strecke.

The Forbidden Room (Forum)

Ein Film wie ein experimenteller Drogentrip. Eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte. Assoziationen, aneinander gereihte und verschachtelte Fragmente. Ein  beiläufiger Zeitungsartikel führen von einem Bild zum nächsten Handlungsstrang. Ein Film hoch 7 möchte man vielleicht sagen. Und irgendwann ist es eigentlich auch egal, und man lässt sich vollkommen gefangen nehmen von den Bildern. Regisseur Guy Maddin hantiert mit originalen Stummfilm-Titel-Screens, verdichtet nachgedrehte und digital verfremdete Szenen und verbindet seine fiktiven Rekonstruktionen zu einer Hommage an das Kino an sich. Und wer danach sagt, er hätte dem problemlos folgen können – der lügt.

Mr. Holmes (Wettbewerb)

England, nach dem zweiten Weltkrieg. Sherlock Holmes ist 93 Jahre alt und lebt zurückgezogen auf dem Land. Gesellschaft leisten ihm nur seine Haushälterin samt Sohn und diverse Bienenstöcke. Seine Freunde und früheren Weggefährten haben alle längst das Zeitliche gesegnet und so bleibt ihm nichts, als sich einen Film über sich selbst im Kino anzusehen und darüber den Kopf zu schütteln, wenn der andere Holmes da auf der Leinwand „Murder, my dear Watson!“ ausruft. 
Bill Condon hat seinen Sherlock mit Ian McKellen fabelhaft besetzt und auch die Nebenrollen mit Laura Linney und Milo Parker stehen dem in nichts nach. Es ist ein netter Film geworden, eine Spielerei über Mythos und Legendenbildung, Alter, Erinnerung und Wahrheit. Und doch fiel es mir ausnehmend schwer, Sherlock altern, ja, alt und zunehmend senil zu sehen. Mr. Holmes, der sich den Namen seines Gegenübers auf die Manschette schreibt, weil er ihn längst vergessen hat, passt nicht in meinen Mythos, in meine Unantastbarkeit, in meine Legende. Und davor verschließe ich auch lieber die Augen.

Body (Wettbewerb)

Der einzige Film meiner Liste, der am Ende im Wettbewerb der Berlinale tatsächlich etwas gewonnen hat und zwar den silbernen Bären für die beste Regie und das auch durchaus verdient. Es ist ein kleiner polnischer Film, irgendwo zwischen Familiendrama und schwarzer Komödie, etwas Übersinnliches und viel Skurriles kommt zum Vorschein, dabei sucht der überforderte Vater Janusz doch nur nach einer Möglichkeit um mit seiner Bulimie-kranken Tochter Olga klar zu kommen. Da das wiederum nur mit Hilfe der unkonventionellen, esoterischen Psychotherapeutin Anna zu funktionieren scheint, müssen sich diese, so vollkommen unterschiedlichen Menschen, irgendwie zusammen raufen um einen Weg zu finden, zu den anderen, zu sich selbst.

Love & Mercy (Berlinale Special)

In den 1980er Jahren lernt die Autoverkäuferin Melinda Brian Wilson kennen, Gründer und kreativen Kopf hinter den Beach Boys. Je näher sie sich kommen, desto deutlicher treten Brains Psychosen, aber auch die Abhängigkeit von seinem Psychiater zu Tage. Parallel dazu illustriert der Film die Entwicklung des jungen Brian in den 1960er Jahren, auf dem absoluten Höhepunkt des Beach-Boy-Erfolges, vom musikalischen Genie zum unsicheren, von Angstzuständen geplagten Einzelgänger, der sich eigentlich nur in seinem Studio wirklich sicher fühlt.
Love & Mercy war vielleicht mein Favorit auf der diesjährigen Berlinale. Ein toller Film, mit fantastischer Musik und großartiger Besetzung, vor allem Dank Paul Dano und Paul Giamatti. Ein Film der auf wahren Begebenheiten beruht und gerade im Hinblick auf Kontrollwahn und Fremd-Steuerung mitunter ausgesprochen beängstigende Züge annimmt.

Fazit

Ich kann sagen, dass ich mit den gesehen Filmen durchaus zufrieden war. Es war interessantes und spannendes dabei und einiges, was ich sonst wohl nie zu Gesicht bekommen hätte. Im Nachhinein waren in der Presse wohl Taxi (Gewinner des Goldenen Bären aus dem Iran) und Victoria (eine deutsche Produktion, die tatsächlich als eine einzige Einstellung eine Odyssee durch das nächtliche Berlin erzählt) zu hören und die werde ich dann bestimmt bei nächster Gelegenheit nachholen.

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