TV-Kritik: „Klassentreffen“ (ARD)

Improvisations-Comedy der etwas anderen Art: man nehme eine illustre Runde von prominenten deutschen Schauspielern – u. a. Annette Frier (“Danni Lowinski”), Charly Hübner (“Polizeiruf 110”), Oliver Wnuk (“Stromberg”), Nina Kunzendorf (“Tatort”) und Kida Khodr Ramadan (“4 Blocks”). Diese lässt man vier Stunden lang in einer ollen kölner Kneipe spontan ein Klassentreffen feiern. Es gibt kein Drehbuch, jeder Darsteller hat nur ein Rollenprofil erhalten. Gefilmt wurde das Ganze mit 24 Kameras vier Stunden lang in Echtzeit. Nun war es an Regisseur Jan Georg Schütte, aus den unzähligen Stunden Filmmaterial eine sehenswerte Wiedersehensfeier zu inszenieren. Es ist ihm meisterlich geglückt.

Auch wenn viele unserer Hörer/Leser wohl noch nicht ganz so alt sind, so hat doch jeder sicherlich zumindest schon mal von dieser ganz besonderen Stimmung auf einem Klassentreffen gehört. Ich hatte gerade erst mein 25jähriges Abi-Treffen und habe es noch in lebhafter Erinnerung. Und da gibt es so einige Fragen, die einen umtreiben: was ist aus den Strebern geworden? Und aus denen, die das Abi vielleicht gar nicht oder nur ganz knapp geschafft haben? Ist aus dem Klassenclown von damals wirklich dieser seriöse Unternehmensberater am Nachbartisch geworden? Wie ist es meiner heimlichen Jugendliebe ergangen? Und auf welcher Seite stehe ich eigentlich bei all den Gewinnern und Verlierern?

“Klassentreffen” hat so gar nichts zu tun mit dem, was man als Fernsehzuschauer als “Impro-Comedy” kennt. In Sendungen wie der “Schillerstraße” ging es vorrangig darum, aus eingeworfenen Begriffen eine lustige Handlung zu basteln. In diesem Fernsehfilm zeigen die Darsteller jedoch, dass sie auch in der Lage sind, aus dem Stehgreif große Gefühle zu erzeugen. Wenn zum Beispiel die ehemals beste Freundin darüber sinniert, warum sie denn damals nicht diesen einen Schritt von Freundschaft zu Liebe gegangen sind – und damit die Welt des an sich glücklichen Familienvaters über den Haufen wirft. Oder wenn die dicksten Freundinnen von damals sich gegenüberstehen und fragen, warum sie denn den Kontakt zueinander verloren haben, wo sie doch sofort wieder in ihre alten Rituale verfallen. Oder wenn der Altenpfleger seinem Ex-Lehrer vorwirft, dass “dieser eine fehlende Punkt in der Abi-Klausur” sein Leben auf die falsche Bahn gebracht hat.

Der Film schafft das große Kunststück, seinen 16 Hauptcharakteren in nur 90 Minuten genug Zeit einzuräumen, damit alle Ex-Schüler glaubwürdig sind und die notwendige Tiefe entwickeln können. Die Darsteller hingegen verstehen es ebenso, die ihnen zugedachten Rollen so perfekt umzusetzen, dass – entschuldigt das blöde Wort – “Magie” entsteht. Nicht vergessen: kein Dialog ist vorgefertigt. Jeder Satz entsteht in der Sekunde, in der er gesagt wird. Dass daraus ein so rundes Gesamtwerk geworden ist, das einen wirklich mitnimmt, ist eben auch der Klasse der Darsteller zu verdanken.

Natürlich könnte man dem Film vorwerfen, dass hier wie schon so oft mit Stereotypen gearbeitet wird. Mit dem erfolglosen Musiker, der sich durchs Leben schlängelt und dem, der es geschafft hat und den “Bedürftigen” lockig-flockig die Euroscheine unterschiebt. Aber wenn ich ehrlich bin: auch wenn bei meinem Klassentreffen das große Drama, der große Streit ausgeblieben ist, so habe ich doch viele Nuancen von realen Klassentreffen in diesem Stück wiederfinden können. Wie heißt es so schön: “ganz nah dran an der Realität”. Überhaupt nicht künstlich überzeichnet – weit weg von der “Schillerstraße”.

In einer relativ aktuellen Umfrage auf Cashys Blog konnte ich feststellen, dass außer mir anscheinend auch viele andere den Rundfunkbeitrag gerne bezahlen. Nur schreien eben die lauter, die sich über “GEZ-Abzocke” beschweren. Mit “Klassentreffen” sehe ich mein Geld sehr gut angelegt.

Den 90minütigen Film „Klassentreffen“ findet Ihr hier in der ARD-Mediathek.

Zusatz-Tipp: Auf ARD One läuft eine sechsteilige Miniserie mit je knapp 30 Minuten Laufzeit. Hier werden einzelne Personen noch ein wenig genauer betrachtet. Ebenfalls zu finden in der ARD-Mediathek.

Und wer dieses TV-Experiment von Jan Georg Schütte gut findet, sollte sich auch eine weitere Arbeit von ihm ansehen, die in eine ähnliche Richtung geht. Auch in „Wellness für Paare“ haben die Darsteller nur Rollenprofile, aber keine fertigen Drehbücher erhalten. Der Film mit ebenso namhaften Darstellern wie Bjarne Mädel, Anke Engelke und Anneke Kim Sarnau ist zur Zeit in der Arte-Mediathek zu finden.

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